Montag, 4. Juli 2016

STILLGEBORENE

Während der Ausbildung zur Sterbebegleiterin bin ich über das Wort gestolpert und es hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Stillgeboren – ein Wort, das einen unendlichen Raum für Ungesagtes in sich birgt. Ich kannte das Wort vorher nicht – und möglicherweise kennen „Stillgeborene“ auch nur Menschen, die es selber erlebt haben: ein Baby, dass vor der Geburt stirbt, ist ein menschliches Drama, über das kaum jemand spricht.

Auch meine Großmutter nicht. 
Durch Zufall habe ich davon erfahren. Über meine Mutter. Sie wusste von dem stillgeborenen Kind, durfte aber nie darüber sprechen. Jetzt, mit beinahe 80 Jahren, erzählt sie mir das erste Mal davon und ich bekomme eine Vorstellung von dem tiefen Schweigen meiner Mutter und der bodenlosen Einsamkeit meiner Großmutter.

Es muss ungefähr 1932 oder 1933 gewesen sein, im Norden von Deutschland, in Angeln. Meine Großmutter führte ein Leben als „Sattlerfrau“, war Mutter von damals drei Kindern auf einem kleinen Dorf nahe der dänischen Grenze, umgeben von kleinen Bauernhöfen und Großgrundbesitzern. Die Sattlerwerkstatt meines Großvaters habe ich noch kennengelernt, sie war voll mit geheimnisvollen Werkzeugen und einem unterirdischen Kartoffelkeller, in dem man prima Verstecken spielen konnte.
Neben den drei Kindern versorgte meine Großmutter die Gesellen meines Großvaters, die in Gesellenzimmern untergebracht waren. Holzverkleidete kleine Räume mit drei bis vier Gesellenbetten darin – ein ideales Schlafparadies für die späteren Enkelkinder – also für uns. Als Kinder haben wir mit unseren Cousinen oft darin gespielt und bergeweise Süßigkeiten für einen Pfennig von dem Tante Emmaladen gleich um die Ecke verputzt. Die gab es aus großen Gläsern, in die wir selber mit unseren nicht immer sauberen Händen hereingreifen durften. Der ganze Laden roch nach saurer Milch, weil es eigentlich ein Milch-und Käseladen gewesen ist. Früher hat meine Großmutter und Handwerksmeisterfrau dort sicher ein von der Dorfgemeinschaft geachtetes und respektables Leben geführt.
1932 war eine Zeit mit großer Arbeitslosigkeit und die Machtübernahme Hitlers nahte in Riesenschritten. Die Schrecken des ersten Weltkrieges mit den ganzen Verlust- und Existenzängsten, die so ein Krieg mit sich bringt, steckten noch in den Knochen. Kinder waren zu der Zeit nicht nur ein “Statussymbol“, sondern auch eine Art „Lebensversicherung“ und „Altersvorsorge“. Damals war meine Großmutter mit ihrem vierten Kind schwanger, sichtbar für alle. Als sie ins Krankenhaus gefahren ist, um ihr Kind zu bekommen – ist sie ohne wieder nach Hause gekommen. Mehr weiß meine Mutter darüber nicht. Nur auch, dass es eine Situation gewesen ist, die meine Großmutter nie richtig verkraftet hat– und über die nie gesprochen werden durfte. Im Dorf nicht und schon gar nicht in der Familie.

Vier Jahre später ist meine Mutter geboren worden. Als Nesthäkchen durfte sie aus medizinischer Sicht eigentlich gar nicht mehr zur Welt kommen. Für sie und ihre Geschwister war das stillgeborene Geschwisterkind immer ein unumstößliches Tabuthema. Ein Bereich, der für meine Großmutter nur Schmerz, Trauer und vielleicht auch Scham empfand. Ein tiefverschlossenes Geheimnis, an dem keiner rühren durfte. Achtzig Jahre später erzählt sie mir davon, durch Zufall.

Familiengeheimnis.

Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume,
ich leb´ in euch, geh´ durch eure Träume.
Michelangelo Buonarroti




Fähr-Hülle für Stillgeborene
Die Bezeichnung FÄHR-HÜLLE ist in Anlehnung an die griechische Mythologie entstanden: Die Fähre bringt den Verstorbenen vom Leben über den Fluss Styx in das Totenreich am anderen Ufer.