Montag, 18. Juli 2016

ICH LEBE NOCH

Gestern hat mich die junge Frau, die ich zurzeit und sehr gerne begleite, zu einem Fest eingeladen. Ein Fest, zu dem alle die Menschen kommen sollen, die später auch bei ihrer Trauerfeier dabei sein werden. Menschen, die sie mag, die ihr wichtig sind, die sie liebt, die sie achtet. Seelenverwandte, Freunde, Familie.
 
Ich lebe noch! – und das möchte ich genau mit dir feiern. Jetzt oder nie.
 
Wenn der Tod nahe ist, dann wird das Leben anders. Nicht nur für denjenigen, der gehen muss, sondern auch für die Menschen rundherum. Gespräche angesichts des Todes gehen "ans Eingemachte", kommen auf den Punkt. Was ist mir im Leben wichtig? Warum tue ich das, was ich für wichtig halte, so selten? Warum muss erst eine Diagnose gestellt werden, bevor ich meine Gewohnheiten ändere? Woran glaube ich? Was kommt nach dem Leben?

 Und es werden Geschichten erzählt:
„Als meine Mutter gestorben ist hat sie immer gesagt, dass mein Vater schon auf sie wartet und sie abholen wird, wenn es soweit ist. Das war sehr tröstlich für mich. Glaubst du an so etwas?“

„Ja, das es eine Macht gibt, die für komische „Zufälle“ verantwortlich ist, das kann ich mir vorstellen. Zum Beispiel, wenn ich ganz stark an einen Menschen denke – und dann einen Anruf von ihm bekomme.“

„Warum kann ich nur so schwer meine Gewohnheiten ändern? Ich nehme mir etwas vor und möchte es wirklich gerne machen und lande dann doch wieder auf dem Sofa. Unzufrieden noch dazu. Mein Bruder macht jedes Jahr eine TO-DO-Liste von den Dingen, die er vor seinem Tod noch erledigen möchte. Und er arbeitet sie tatsächlich ab.“
Kann ich ein Leben leben, in dem nichts offen bleibt? In dem Alles gelebt wird, was mir lohnenswert und wichtig erscheint und kein „ach, hätte ich bloß“ zurückbleibt? Geht das?
 


HEUTE MAL *** ANDERS ist ein blog-Tagebuch,

HEUTE MAL *** etwas machen, dass aus den gewohnten Rahmen fällt.

HEUTE MAL *** über meine eigene Trauerfeier nachdenken:
                                meine Trauerrede, meine Trauergäste, mein Sarg, mein Grab.
 
 

Donnerstag, 14. Juli 2016

SCHLAFLOS

Jeder Besuch als Sterbebegleiterin im ambulanten Hospiz gibt mir genug Anlass, um über mich selber nachzudenken. Über meine Situation, meine Verhältnisse, meine Beziehungen. Nach meinen Besuchen schreibe ich kleine Geschichten, die die Situation der Sterbenden widerspiegeln, aber auch meine Gedanken und Gefühle. Wie geht es einer jungen Frau, die weiß, dass sie sterben wird und ihre Kinder alleine lassen muss?
 
 
SCHLAFLOS


Gerade wird alles wichtig, muss alles geregelt werden. Nichts soll ausgelassen werden. Nichts unausgesprochen. Nichts aufgeschoben. Das JETZT ist wichtiger denn je und jedes Gefühl zählt. Das Risiko, das ich etwas übersehen könnte, macht mich schlaflos. Das gilt besonders für meine Kinder.
 
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Ich wünsche mir so sehr, dass ein gutes Leben auf sie wartet. Dass sie sich geliebt fühlen und lieben können. Auch sich selbst.

Dass ihr Selbstvertrauen weiter wächst und dass sie anderen Menschen vertrauen können. Dass sie ihre wundervollen Begabungen erkennen und sie einsetzen können.
 
Dass das Leben ihnen wohlgesonnen ist und dass sie mit Freude ihren Weg gehen werden. Dass sie diese Freude am Leben weitergeben können, sodass viele Menschen
gerne ihr Leben mit ihnen teilen möchten.

Ich wünsche mir, dass meine Söhne sich getragen fühlen, auch in ihrer Trauer. Dass sie sich fallen lassen können, auch in ihrer Freude. Und dass sie immer das Gute in dem Anderen sehen können.

Ich wünsche Ihnen gute Wegbegleiter, die Ihnen genau die Art an Hilfe und Unterstützung geben können, die sie brauchen. Freunde mit liebenden Hände und wachsamen Ohren.

 Ich wünsche ihnen, dass sie nicht das Gefühl haben, immer stark sein zu müssen, sondern auch zu ihren Schwächen stehen können und ihre weichen Seiten ernst nehmen.

Ich wünsche Ihnen, dass sie sich beschützt fühlen und in diesem Schutz alles das entdecken können, was ihnen wichtig ist.

Ich wünsche Ihnen, dass sie ein tiefes Vertrauen darin entwickeln, dass alles, was ihnen passiert, einen Grund hat und dass dieser Grund ein guter Grund ist.

Das wünsche ich Ihnen von tiefsten Herzen, und dafür werde ich kämpfen wie eine Löwin. 

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Ich wünsche mir, dass ich mir um all das keine Sorgen mehr zu machen brauche,
denn diese Sorgen machen mich schlaflos. Ich wünsche mir, dass alles genauso passieren wird.
 
 

Montag, 4. Juli 2016

STILLGEBORENE

Während der Ausbildung zur Sterbebegleiterin bin ich über das Wort gestolpert und es hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Stillgeboren – ein Wort, das einen unendlichen Raum für Ungesagtes in sich birgt. Ich kannte das Wort vorher nicht – und möglicherweise kennen „Stillgeborene“ auch nur Menschen, die es selber erlebt haben: ein Baby, dass vor der Geburt stirbt, ist ein menschliches Drama, über das kaum jemand spricht.

Auch meine Großmutter nicht. 
Durch Zufall habe ich davon erfahren. Über meine Mutter. Sie wusste von dem stillgeborenen Kind, durfte aber nie darüber sprechen. Jetzt, mit beinahe 80 Jahren, erzählt sie mir das erste Mal davon und ich bekomme eine Vorstellung von dem tiefen Schweigen meiner Mutter und der bodenlosen Einsamkeit meiner Großmutter.

Es muss ungefähr 1932 oder 1933 gewesen sein, im Norden von Deutschland, in Angeln. Meine Großmutter führte ein Leben als „Sattlerfrau“, war Mutter von damals drei Kindern auf einem kleinen Dorf nahe der dänischen Grenze, umgeben von kleinen Bauernhöfen und Großgrundbesitzern. Die Sattlerwerkstatt meines Großvaters habe ich noch kennengelernt, sie war voll mit geheimnisvollen Werkzeugen und einem unterirdischen Kartoffelkeller, in dem man prima Verstecken spielen konnte.
Neben den drei Kindern versorgte meine Großmutter die Gesellen meines Großvaters, die in Gesellenzimmern untergebracht waren. Holzverkleidete kleine Räume mit drei bis vier Gesellenbetten darin – ein ideales Schlafparadies für die späteren Enkelkinder – also für uns. Als Kinder haben wir mit unseren Cousinen oft darin gespielt und bergeweise Süßigkeiten für einen Pfennig von dem Tante Emmaladen gleich um die Ecke verputzt. Die gab es aus großen Gläsern, in die wir selber mit unseren nicht immer sauberen Händen hereingreifen durften. Der ganze Laden roch nach saurer Milch, weil es eigentlich ein Milch-und Käseladen gewesen ist. Früher hat meine Großmutter und Handwerksmeisterfrau dort sicher ein von der Dorfgemeinschaft geachtetes und respektables Leben geführt.
1932 war eine Zeit mit großer Arbeitslosigkeit und die Machtübernahme Hitlers nahte in Riesenschritten. Die Schrecken des ersten Weltkrieges mit den ganzen Verlust- und Existenzängsten, die so ein Krieg mit sich bringt, steckten noch in den Knochen. Kinder waren zu der Zeit nicht nur ein “Statussymbol“, sondern auch eine Art „Lebensversicherung“ und „Altersvorsorge“. Damals war meine Großmutter mit ihrem vierten Kind schwanger, sichtbar für alle. Als sie ins Krankenhaus gefahren ist, um ihr Kind zu bekommen – ist sie ohne wieder nach Hause gekommen. Mehr weiß meine Mutter darüber nicht. Nur auch, dass es eine Situation gewesen ist, die meine Großmutter nie richtig verkraftet hat– und über die nie gesprochen werden durfte. Im Dorf nicht und schon gar nicht in der Familie.

Vier Jahre später ist meine Mutter geboren worden. Als Nesthäkchen durfte sie aus medizinischer Sicht eigentlich gar nicht mehr zur Welt kommen. Für sie und ihre Geschwister war das stillgeborene Geschwisterkind immer ein unumstößliches Tabuthema. Ein Bereich, der für meine Großmutter nur Schmerz, Trauer und vielleicht auch Scham empfand. Ein tiefverschlossenes Geheimnis, an dem keiner rühren durfte. Achtzig Jahre später erzählt sie mir davon, durch Zufall.

Familiengeheimnis.

Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume,
ich leb´ in euch, geh´ durch eure Träume.
Michelangelo Buonarroti




Fähr-Hülle für Stillgeborene
Die Bezeichnung FÄHR-HÜLLE ist in Anlehnung an die griechische Mythologie entstanden: Die Fähre bringt den Verstorbenen vom Leben über den Fluss Styx in das Totenreich am anderen Ufer.